Coaching zur Standortbestimmung im mittleren Alter
In meinen Formaten wie Coaching oder Führungskräfte-Entwicklung stoße ich oft auf Anliegen von Berufstätigen „im besten Alter“ zwischen 45 und 55. Sie haben noch viele Lebens- und auch Berufsjahre vor sich und auch einiges an Veränderungen. Dafür braucht es einen festen Stand und eine sinn-volle Richtung. Dazu einige Gedanken aus meiner Sicht als Coach.
Der dunkle Wald
Soweit der Anfang von Dante Alighieris Göttlicher Komödie, 700 Jahre alt und heute noch aktuell. Die Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello ist der Meinung, dass das mittlere Lebensalter heutzutage eine absolut krisenanfällige Zeit ist. Ein offener und aktiver Mensch, der sich selbst und sein Wirken hinterfragt, tut sich ihrer Meinung nach leichter, in der Lebensmitte Veränderungen herbeizuführen oder zu akzeptieren. Für Menschen, die viel Wert auf Sicherheit und Routinen legen, können Übergangsprozesse bedrohlich sein.
Früher und heute
Es ist noch gar nicht lange her, da blieben die meisten Menschen dem gelernten Beruf und „ihrem“ Unternehmen lebenslang treu. Man kletterte Sprosse für Sprosse die Karriereleiter hoch. Oder – wie mein Vater – man blieb lebenslang mit der gleichen Aufgabe auf derselben Position. Die Geschlechterrollen waren klar definiert. Männer als Ernährer der ganzen Familie mussten sich auf die Kontinuität im Job (bzw. im Geld verdienen) verlassen können. Frauen waren als Hüterinnen von Haushalt und Kindern, wenn überhaupt, „dazu“-Verdienerinnen. Mit Mitte 50 waren einschneidende berufliche Entscheidungen eigentlich vorbei.
Freiraum entdecken
Diese sichere und oft linear verlaufende Lebensstellung gibt es heute kaum mehr. Oder besser, wieder nicht mehr. Die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung – ob für den Einzelnen positiv oder negativ – sorgen für immerwährende Bewegung. Das Berufsleben birgt mehr Risiken wie Jobverluste, Firmenpleiten oder Änderungen der beruflichen Anforderungen. Mit den Risiken entstehen neue Chancen und mit ihnen ein gesellschaft-licher und persönlicher Freiraum, den wir nutzen können. Diesen Freiraum zu entdecken und zu gestalten ist ein originäres Anliegen vieler meiner Coaching-KlientInnen 45Plus.
Entscheidungen treffen
Neue Lebens- und Arbeitsmodelle sind nicht zuletzt auch durch gewandelte Geschlechterrollen entstanden. Sie bieten Männern und Frauen neue Chancen, aber auch neue Entscheidungszwänge:
- Eine Führungsposition neu beginnen oder bewusst verlassen
- Sich als Fachexperte oder in der Projektleitung spezialisieren
- Sich selbständig machen und selbst ein Unternehmen gründen
- Tätigkeit, Firma, Branche oder Region wechseln
- Sich weiterbilden oder für einen Beruf neu qualifizieren
- Statt Vollzeit Teilzeit arbeiten oder umgekehrt
- Sich stärker in der Familie einbringen, z.B. als später Vater
- in Rente weiter in Teilzeit oder freiberuflich tätig bleiben
Lebensmodelle, Job- und Familienkonstellationen entwickeln sich weiter. Es gibt mehr Patchwork-Familien. Frauen haben ganz andere berufliche Ansprüche und auch Möglichkeiten jenseits des Hinzuverdienens. Lebens-lang beruflich dasselbe zu tun reicht vielen nicht mehr. Veränderungen sind die Regel geworden, und mit ihr die Neubetrachtung der eigenen Karriere.
Hauptmotivatoren
- Verstärkter Wunsch nach Selbstverwirklichung
- Fragen nach sinnvoller, werteorientierter Tätigkeit
- Zunehmende Entfremdung von der klassischen Arbeitswelt
- Gesundheitliche Probleme, die sich nicht länger ignorieren lassen
- Zunehmender Stress und Arbeitsbelastung
Berufliche Standortbestimmung
Berufliche Neuorientierung erfordert psychische Entwicklung. Diese (Ein-)Sicht fällt vielen KlientInnen erst einmal schwer. Die eigene berufliche Entwicklung als Reise zu sehen, hilft. Wissen, Erfahrung und Kompetenz in der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben werden nicht nur am Arbeits-platz, sondern auch in der Familie, im Ehrenamt, in der Kirche oder beim Sport erworben. Diese bilden mit den beruflichen Fähigkeiten die Mosaiksteinchen zur Standortbestimmung.
Sie gilt es zu sammeln, zu einem Bild zusammen zu setzen und sich so über die eigenen Kernkompetenzen klar zu werden. Die Frage lautet nun: „Wo und wie können diese Stärken am besten zum Einsatz kommen?“. Dabei ist völlig offen, ob in der aktuellen Position oder mit einer beruflichen Neupo-sitionierung. Hier ein paar Fragen, die meine Klientinnen hilfreich finden:
Wo ist mein Stand (Basiscamp)?
- Persönliche Diagnose: Wo stehe ich jetzt?
- Was ist meine Ausrüstung? Was beschwert meinen Rucksack?
- Was habe ich bereits erreicht / hinter mir?
Wo will ich hin (attraktive Gipfel)?
- Wie könnte ich mir mein / wir unser Leben noch einrichten?
- Welche Alternativen sind möglich, welche nicht, was will / brauche ich?
- Was ist wünschenswert – was darf alles bleiben – muss ich etwas verändern?
Fragen, die sich Männer wie Frauen stellen
- Will ich so weiter arbeiten wie bisher, noch 10, 15, 20 Jahre?
- Will ich mich beruflich (noch oder wieder) stärker einbringen, zum Beispiel eine Fortbildung machen, wieder auf Vollzeit gehen oder mich für eine Führungsposition bewerben?
- Wie gelingt mir das Jonglieren mit Beruf, Familie, vielleicht der Betreuung der älteren Generation und meiner eigenen Wünsche?
- Meine Eltern / Schwiegereltern erwarten Unterstützung oder müssen gepflegt werden, die Kinder sind noch nicht aus dem Haus. Wie kann ich vorgehen, ohne dass meine eigenen Bedürfnisse unter den Tisch fallen?
- Soll ich noch eine Aus- oder Weiterbildung machen? Ich hab doch schon so viele…
- Ist jetzt ein guter Zeitpunkt, mich – haupt- oder nebenberuflich – selbstständig zu machen?
- Seit Jahren habe ich eine gute Position, arbeite aber wie verrückt dafür. Wie kann ich Energie sparen?
Michaela Arlinghaus wies in ihrem Artikel „Wiedereinsteigerin, Querdenkerin oder Spät-Blühende?“ im Coaching-Magazin 1/2013 zu Recht darauf hin, dass ein unterschätztes „Karriere“-Szenario sich mit dem Hinzuverdienst von Frauen zu ihrer Rente beschäftigt. Deren Rente reicht oft nicht zum Leben. Geld hinzuverdienen als Rentnerin ist dann kein Luxus, sondern bare Notwenigkeit.
Weitere Coaching-Themen in der Lebensmitte
Klug haushalten. Viele Coaching-Klienten 45Plus bringen die Frage nach dem ökonomischen Umgang mit der eigenen Kraft mit. Sie beschäftigen sich im mittleren Alter intensiver, nicht immer freiwillig, mit der eigenen Gesundheit. Damit verbunden ist manchmal der Wunsch, zukünftig weniger zu arbeiten, seine Kraft und Energie gezielter einzusetzen und trotzdem anspruchsvolle Aufgaben zu bewältigen. Das Wissen um eigene Grenzen und endliche Reserven ist ein Zeichen von Reife und nicht von Schwäche. Hier haben viele KlientInnen noch die Defizit-Brille auf.
Zugang zu sich selbst. Wer ständig mit unterschiedlichen Lebenswelten wie Beruf, Familie, Haushalt und Ehrenamt jongliert, braucht einen guten Zugang zu den eigenen Bedürfnissen. Coaching unterstützt dabei, vielfältige persönliche Bewältigungsstrategien zu identifizieren: Geht es mir vorwiegend um (die Verlockungen der) Selbstoptimierung? Oder steigt meine Zufriedenheit in der Lebensmitte durch das Ankommen in der eigenen Persönlichkeit?
Wissen teilen: Mit verschiedenen Generationen zusammen zu arbeiten kann sehr reizvoll sein. Wer als Führungskraft, FachexpertIn oder UnternehmerIn dabei die eigene Erfahrung weiter gibt, bereitet den Boden für einen guten Übergang oder für die mittelfristige Nachfolge. Großzügig sein bedeutet, den Menschen zugewandt zu bleiben und sich nicht in einen Elfenbeinturm des Wissens zurückzuziehen.
Sinn finden: Als „Radikalität des Nullpunkts“ bezeichnete der Straßburger Mystiker Johannes Tauler, übrigens ebenfalls vor 700 Jahren, die spirituelle Krise in der Lebensmitte. Wenn es für einen Menschen bedeutsam wird, etwas Eigenes, Sinnvolles zu schaffen, kann Veränderung nach innen mächtiger sein und folgenreicher wirken als sichtbare äußere Veränderungen.
Sich von alten Träumen zu verabschieden („des-illusionieren“) gehört zum mittleren Lebensalter und ist ebenfalls ein Zeichen von Reife. C.G. Jung hat gesagt, man könne die zweite Lebenshälfte nicht nach dem Muster der ersten leben. Für diese Erkenntnis braucht es nicht immer eine Krise – eine bewusste persönliche Standortbestimmung, zum Beispiel durch Coaching, kann dabei auch hilfreich sein.